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Zuerst gepostet von Tilman Hausherr <tilman@berlin.snafu.de> in de.soc.weltanschauung.scientology am 9. November 1997.

Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

(c) Stern

Ausschnitt Seiten 222 - 249

CHRISTIANE F.:

Und irgendwann im Mai 1977 schnallte ich es dann auch selber mit meinem kaputten Kopf, daß ich genau noch zwei Möglichkeiten hatte: Entweder ich setzte mir möglichst bald den Goldenen Schuß, oder ich machte einen ernsthaften Versuch, vom Heroin loszukommen. Ich wußte, ich war bei dieser Entscheidung ganz allein. Auch auf Detlef konnte ich da nicht mehr rechnen. Ich konnte vor allem die Entscheidung nicht von ihm abhängig machen.

Ich fuhr zur Gropiusstadt, zum Haus der Mitte, in das evangelische Jugendhaus, wo meine Drogenkarriere angefangen hatte. Der Club war mittlerweile zugemacht worden, weil sie da mit dem Heroinproblem nicht mehr fertig geworden waren. Dafür hatten sie jetzt eine Drogenberatung. Echt eine Drogenberatung nur für die Gropiusstadt. So viele Heroinsüchtige gab es da zwei Jahre, nachdem das erste H in Gropiusstadt aufgetaucht war. Die sagten mir, was ich eigentlich längst wußte: Daß ich nur durch eine echte Therapie noch eine Chance hätte. Sie gaben mir die Adressen von DrogenInfo und Synanon, weil die noch die größten Therapie-Erfolge hätten.

Ich hatte einen ziemlichen Bammel vor diesen Therapien, denn die waren unheimlich hart, erzählte man auf der Scene. Das war die ersten Monate schlimmer als im Gefängnis. Bei Synanon mußte man sich sogar erst mal eine Glatze schneiden lassen. Wohl, um zu beweisen, daß man mit einem ganz neuen Leben anfangen wollten. Ich dachte, daß ich das nicht bringen würde, mir den Kopf kahlscheren zu lassen und rumzulaufen wie Kojak. Meine Haare waren mir irgendwie das Wichtigste an mir. Hinter ihnen versteckte ich mein Gesicht. Ich dachte wenn sie mir die Haare abschneiden, könnte ich mich auch gleich umbringen.

Die Drogenberaterin sagte dann auch selber, daß ich kaum eine Chance hätte bei Drogeninfo und Synanon, weil die eigentlich gar keine Therapieplätze mehr frei hätten. Die Aufnahmebedingungen seien sehr hart. Man mußte körperlich noch gesund sein und denen erstmal durch freiwillige Selbstdisziplin beweisen, daß man überhaupt die Kraft hatte, von H weg zukommen. Die Drogenberaterin sagte, daß ich ja noch sehr jung sei, nicht einmal 15, also fast noch ein Kind. Da würde ich schwer bringen, was die verlangten. Für Kinder gäbe es eigentlich noch gar keine Therapie.

Ich sagte, ich wollte eigentlich auch zu Narkonon. Narkonon war das Therapie-Haus einer Sekte, der Scientology Church. Auf der Scene liefen einige Fixer rum, die schon bei Narkonon gewesen waren und erzählten, das sei da eigentlich ganz in Ordnung. Bei Narkonon gab es überhaupt keine Aufnahmebedingungen, wenn man im voraus zahlte. Man durfte seine Fixer-Kluft anbehalten, die eigenen Platten mitbringen und sogar Tiere.

Die Drogenberaterin sagte, ich solle mal darüber nachdenken, warum so viele Fixer erzählten, die Therapie bei Narkonon sei ganz dufte gewesen, und dabei munter weiter drückten. Sie jedenfalls kenne keinen einzigen Fall einer erfolgreichen Therapie bei Narkonon.

Ich fragte, was ich dann tun solle, wenn ich bei den anderen Therapien erst gar keine Chance hätte. Da gab sie mir die Adresse von Narkonon.

Zu Hause träufelte ich wieder meinem Kater den Rinderblutextrakt mit meiner einzigen Spritze ins Maul. Als meine Mutter kam, sagte ich ihr: "Ich entziehe jetzt entgültig bei Narkonon. Da werde ich ein paar Monate oder auch ein Jahr sein, und dann bin ich echt clean."

Meine Mutter tat so, als glaube sie mir ohnehin kein Wort mehr. Aber sie hängte sich gleich wieder ans Telefon und versuchte, Informationen über Narkonon einzuholen. Ich war voll abgefahren auf den Therapie-Trip. Ich fühlte mich neugeboren. Ich hatte schon an diesem Nachmittag keinen Freier mehr gemacht und war total ohne H. Ich wollte entziehen, bevor ich zu Narkonon ging. Ich wollte da nicht erst ins Turkey-Zimmer. Ich wollte da total clean hinkommen, um vor den anderen, die da neu waren, gleich einen Vorsprung zu haben. Ich wollte gleich beweisen, daß ich echten Willen hatte, vom H wegzukommen.

Ich ging früh ins Bett. Ich legte den Kater, dem es immer mieser ging, neben meinem Kopf auf das Kopfkissen. Ich war ein bißchen stolz auf mich selber. Ich entzog ganz allein, total freiwillig. Welcher Fixer brachte das schon? Ich hatte meiner Mutter zwar gesagt, daß ich sofort entziehen würde, aber die hatte nur ungläubig gelächelt. Sie nahm sich auch nicht wieder frei. So ein Entzug war für sie ja schon bald was Alltägliches und was ganz Hoffnungsloses. Ich mußte also alles echt ganz allein durchstehen.

Am nächsten Morgen war ich dann also voll auf Turkey. Es war so schlimm wie bei den anderen Entzügen, vielleicht sogar noch schlimmer. Aber ich dachte nie, das schaffst du nicht. Wenn ich meinte, die Schmerzen würden mich umbringen, sagte ich mir sofort: Ne, das ist nur das Gift, das aus deinem Körper entweicht. Du wirst leben, weil nie wieder irgendein Gift in deinen Körper hineinkommt. Wenn ich eindöste, hatte ich keine Horrorträume. Dann kamen mir Bilder vom herrlichen Leben nach der Therapie.

(...)

Die Mieze lag noch auf dem Fleck, auf den ich sie gelegt hatte. Auf meinem Kopfkissen. Ich reinigte erstmal meine Spritze und flößte ihr dann wieder Kamillentee mit Traubenzucker ein. Eigentlich hatte ich mir ja meinen letzten Tag als Fixerin etwas anders vorgestellt. Ich überlegte mir, vielleicht noch einen Tag dranzuhängen und auf dem Kudamm rumzuflippen, bevor ich zu Narkonon ging.

Dann kam meine Mutter und fragte, wo ich am Nachmittag gewesen sei. Ich sagte: "Auf dem Kudamm." Sie meinte: "Du wolltest doch heute schon mal bei Narkonon vorbei, um dich nach allem zu erkundigen."

Ich rastete gleich wieder aus und fing an zu brüllen: "Mensch, laß mich in Ruhe. Ich hatte eben keine Zeit. Verstehst du?" Meine Mutter brüllte plötzlich zurück: "Du gehst noch heute abend zu Narkonon. Du packst sofort deine Sachen. Und du bleibst schon heute bei Narkonon."

Ich hatte mir gerade ein Kotelett mit Püree gemacht. Ich nahm den Teller, ging aufs Klo, schloß mich ein und aß auf dem Klo. Das war also der letzte Abend bei meiner Mutter. Ich brüllte rum, weil sie geschockt hatte, daß ich schon wieder auf H war, und weil ich mich selber ankotzte, daß ich mir doch noch einen Druck gemacht hatte. Und ich wollte dann auch selber zu Narkonon.

Ich packte ein paar Sachen in meine Korbtasche und steckte die Spritze, einen Löffel und den Rest vom Dope vorne in die Unterhose. Wir fuhren im Taxi nach Zehlendorf, wo das Haus von Narkonon war. Die Typen von Narkonon stellten an mich erst gar keine Fragen. Da wurde tatsächlich jeder aufgenommen. Die hatten sogar Schlepper, die über die Scene liefen und Fixer ansprachen, ob sie nicht mal zu Narkonon kommen wollten.

Aber an meine Mutter stellten die Typen Fragen. Sie wollten nämlich erst mal Kohle sehen, bevor ich aufgenommen wurde. 1500 Mark Vorauszahlung für den ersten Monat. Meine Mutter hatte natürlich nicht soviel Geld. Sie versprach, das Geld gleich am nächsten Vormittag vorbeizubringen. Sie wollte einen Kredit aufnehmen. Sie sagte, daß ihre Bank sofort ohne Schwierigkeiten einen Kleinkredit geben würde. Sie bat und bettelte, daß ich bleiben durfte. Die Typen waren schließlich einverstanden.

Ich fragte, ob ich mal aufs Klo dürfe. Ich durfte. Man wurde also nicht wie bei anderen Therapien erstmal durchsucht und mußte nach Hause gehen, wenn man Fixer-Utensilien dabei hatte. Ich ging aufs Klo und drückte ganz schnell das restliche Dope weg. Die sahen natürlich, daß ich voll breit aus dem Klo zurückkam, aber sie sagten nichts. Ich gab ihnen mein Besteck. Der Typ, dem ich das gab, sagte ganz erstaunt: "Das haben wir aber gern, daß du uns das ganz freiwillig gibst."

Ich mußte ins Turkey-Zimmer, weil die eben sahen, daß ich total breit war. Da waren noch zwei im Turkey-Zimmer. Einer haute gleich am nächsten Morgen wieder ab.

Das war dann für die Narkonon-Leute ein ganz schöner Verdienst, wenn sie von jemandem das Geld für einen Monat hatten, und der haute gleich wieder ab.

Ich bekam Bücher mit der Lehre der Scientology Church. Ganz schön abgefahrene Schwarten. Ich fand, daß das eine ganz geile Sekte war. Jedenfalls hatten sie ziemlich abgefahrene Geschichten, die man glauben konnte oder nicht. Ich suchte nach etwas, das ich glauben konnte.

Nach zwei Tagen durfte ich wieder aus dem Turkey-Zimmer raus, weil ich nach den zwei Schuß kaum Entzugserscheinungen hatte. Ich kam auf ein Zimmer mit Christa. Das war eine total ausgeflippte Frau. Sie kriegte gleich Therapieverbot, weil sie über die Therapien und die Therapeuten immer nur lachte. Sie kam dann in unser Zimmer und suchte die Fußleisten nach Trips ab. Sie meinte, vielleicht hätte irgend jemand da mal Trips versteckt. Sie brachte mich auf den Dachboden und sagte: "Mensch, hier müßte man ein paar Matratzen aufbauen und dann eine coole Orgie machen mit Wein und Haschisch und so." Die Frau zog mich ganz schön runter. Weil ich sie einerseits echt abgefahren fand. Aber sie brachte meine Gedanken eben immer wieder auf Drogen und fand diese Narkonon-Typen scheiße. Und ich wollte ja nun hier clean werden.

Am zweiten Tag rief mich meine Mutter an und sagte, daß mein Kater gestorben sei. Das war mein 15. Geburtstag. Meine Mutter gratulierte mir erst, nachdem sie das mit dem Kater gesagt hatte. Ihr ging es auch an die Nieren. Ich hab dann am Vormittag meines 15. Geburtstags auf meinem Bett gehockt und nur geflennt.

Als die Typen merkten, daß ich nur noch heulte, sagten sie, ich brauche eine Session. Ich wurde mit einem der Typen, einem ehemaligen Fixer, in einen Raum eingeschlossen, und der gab mir nun scheinbar sinnlose Befehle. Ich durfte nur "ja" sagen und mußte jeden Befehl ausführen.

Der Typ sagte: "Siehst du die Wand. Geh zu der Wand. Berühre die Wand." Und dann ging es wieder von vorne los. Ich wetzte also stundenlang von Wand zu Wand in diesem Zimmer. Irgendwann war es mir echt zuviel, und ich sagte: "Mensch, was soll denn der Quatsch. Seid ihr eigentlich bekloppt. Laßt mich gefälligst in Ruhe. Ich hab keinen Bock mehr." Aber mit seinem Lächeln, das sich nie veränderte, kriegte er mich irgendwann dazu, weiterzumachen. Ich mußte dann auch andere Sachen berühren. Bis ich wirklich nicht mehr von der Stelle konnte und mich auf den Fußboden warf und schrie und heulte.

Er lächelte, und ich machte weiter, als ich mich beruhigt hatte. Ich hatte jetzt auch schon dieses Lächeln drauf. Ich war total apathisch. Ich berührte die Wand schon, bevor sein Befehl kam. Das einzige, was ich noch denken konnte, war: "Das muß ja irgendwann zu Ende sein."

Nach genau fünf Stunden sagte er: "Okay, das ist genug für heute." Ich meinte, daß ich mich unheimlich dufte fühlte. Ich mußte mit ihm in einen anderen Raum gehen. Da stand ein komisches selbstgebasteltes Gerät, so ein Pendel zwischen zwei Blechbüchsen. Das mußte ich anfassen. Der Typ fragte: "Fühlst du dich wohl?"

Ich sagte: "Ich fühl mich wohl. Ich glaube, daß ich jetzt alles viel bewußter erlebe."

Der Typ starrte auf das Pendel und sagte dann: "Es hat sich nicht bewegt. Du hast also nicht gelogen. Die Session war ein Erfolg."

Das komische Ding war ein Lügendetektor. Das war wohl so ein Kultgerät dieser Sekte. Ich war jedenfalls ganz happy, daß das Pendel nicht ausgeschlagen hatte. Das war für mich der Beweis dafür, daß ich mich wirklich wohlfühlte. Ich war bereit, alles zu glauben, um vom H wegzukommen.

Sie machten da allerlei wunderbare Sachen. Als Christa am selben Abend Fieber bekam mußte sie eine Flasche anfassen und immerzu sagen, ob die Flasche heiß oder kalt sei. In ihrem Fiebertran machte sie das mit. Nach einer Stunde hatte sie angeblich kein Fieber mehr.

Ich war so angetörnt von allem, daß ich gleich am nächsten Morgen ins Büro lief und um eine neue Session bat. Eine Woche lang war ich voll auf dem Sekten-Trip und dachte, daß die Therapien mich wirklich weiter bringen. Es war den ganzen Tag Programm. Sessions, Saubermachen, Küchendienst. Das ging bis um zehn Uhr abends. Man hatte überhaupt keine Zeit zum Nachdenken.

Das einzige, was mich annervte, war das Essen. Ich war nun echt nicht verwöhnt mit Essen. Aber den Fraß, den die da anboten, kriegte ich kaum runter. Und ich dachte, für das viele Geld könnten sie schon etwas besseres Essen bieten. Denn sie hatten sonst kaum Unkosten. Die Sessions wurden meistens von ehemaligen Fixern geleitet, die angeblich schon ein paar Monate clean waren. Denen sagte man, das gehöre mit zu ihrer Therapie, und die kriegten allenfalls mal ein Taschengeld. Ich fand es auch nicht gut, daß die Bosse von Narkonon immer für sich aßen. Ich kam mal dazu, als sie gerade am Mittagstisch saßen. Die mampften die leckersten Sachen in sich rein.

An einem Sonntag hatte ich dann richtig Zeit zum Nachdenken. Ich dachte zuerst an Detlef und wurde dabei ziemlich traurig. Dann überlegte ich mir tatsächlich ganz nüchtern, was ich nach der Therapie machen könne. Ich fragte mich, ob die Sessions mir tatsächlich geholfen hätten? Ich war voll mit Fragen, auf die ich keine Antworten hatte. Ich wollte mit irgend jemandem reden. Aber ich hatte niemanden. Eines der ersten Hausgebote war, daß man keine Freundschaften schließen durfte. Und die Narkonon-Typen gaben einem sofort eine Session, wenn man über Probleme reden wollte. Mir wurde klar, daß ich in der ganzen Zeit im Haus noch nie mit jemandem richtig gequatscht hatte.

Am Montag ging ich ins Büro und legte los. Ich ließ mich nicht unterbrechen. Mit dem Essen fing ich an. Dann sagte ich, daß mir schon fast alle Unterhosen gestohlen worden seien. In die Waschküche käme man nie rein, weil das Mädchen, das den Waschküchenschlüssel hatte, ständig auf die Scene abhaute. Überhaupt gab es da ein paar, die hauten ab, um sich einen Druck zu besorgen, und kamen wieder, wie sie wollten. Ich sagte, daß solche Sachen mich ganz schön runterzögen. Und dann diese pausenlosen Sessions und die Hausarbeit. Ich war total übermüdet, weil ich einfach nicht genug Zeit zum Schlafen fand. Ich sagte: "Okay, eure Therapien sind ja ganz schön abgefahren, die sind echt gut. Aber meine eigentlichen Probleme lösen die auch nicht. Weil das ganze eigentlich nur Drill ist. Ihr versucht uns regelrecht zu drillen. Aber ich brauche jemanden, mit dem ich auch mal über meine Probleme reden kann. Ich brauche überhaupt mal Zeit, um mich mit meinen Problemen auseinanderzusetzen."

Die hörten sich das mit ihrem ewigen Lächeln an. Sie sagten überhaupt nichts dazu. Als ich zu Ende war, brummten sie mir eine Extra-Session auf, die den ganzen Tag ging, bis abends um zehn. Die brachte mich wieder in die totale Apathie. Und ich dachte, die wüßten vielleicht doch, was sie taten. Meine Mutter hatte mir bei einem Besuch erzählt, daß sie das Geld, das sie für mich bei Narkonon zahlen mußte, vom Sozialamt zurückbekäme. Und ich meinte, wenn der Staat Geld dafür gab, mußte die Sache eigentlich okay sein.

Andere hatten noch mehr Probleme im Haus als ich. Die Gabi zum Beispiel. Sie hatte sich in einen Typen verknallt und wollte unbedingt mit ihm bumsen. Echt treu doof hat sie das den Narkonon-Bossen erzählt und kriegte sofort eine Extra-Session aufgebrummt. Als sie dann doch mit dem Typ ein paarmal bumste, kam das raus, und die beiden wurden vor allen bloßgestellt. Die Gabi haute noch am selben Abend ab und kam nie wieder. Der Typ, der angeblich schon ein paar Jahre clean war und als Helfer mitarbeitete, türmte etwas später. Er wurde wieder zum totalen Fixer.

Es ging denen von Narkonon eigentlich nicht so sehr ums Bumsen. Wichtiger war ihnen, daß keine Freundschaften entstanden. Aber der Typ war eben schon ein Jahr da, und wie soll man so lange ohne Freundschaft durchstehen.

Ich war in der kurzen Freizeit spät abends immer mit den Jüngeren zusammen. Ich war die Jüngste im Haus. Aber in der Clique, die sich langsam rausbildete, war noch keiner siebzehn. Es kam jetzt die erste Welle von denen in die Therapie, die schon als Kinder angefangen hatten zu fixen. Sie waren nach ein, zwei Jahren alle so fertig gewesen wie ich, weil einem das Gift in der Pubertät wohl noch mehr zusetzt als später. Sie hatten wie ich keine Chance gehabt, bei den anderen Therapien unterzukommen.

Die meisten brachten die Sessions nach einiger Zeit ebensowenig wie ich. Wenn zwei von uns Jüngeren zusammen waren, dann wurde die ganze Session zu einer einzigen Alberei. Wie konnte man auf die Dauer auch ernst bleiben, wenn man einen Fußball anschreien sollte oder sich stundenlang gegenseitig in die Augen sehen mußte. Wir brauchten dann auch gar nicht mehr an den komischen Lügendetektor, weil wir sowieso sagten, daß uns die Session nichts gebracht hatte. Außer Kichern nichts gewesen. Die armen Session-Leiter wurden immer hilfloser, wenn sie mit uns arbeiten sollten.

Nach Feierabend gab es dann in unserer Clique nur noch ein Gesprächsthema: H. Mit einigen redete ich auch übers Abhauen. Nach zwei Wochen bei Narkonon hatte ich dann einen Fluchtplan ausgearbeitet. Mit zwei Jungs tarnten wir uns als das große Saubermachkommando. Mit Mülleimer, Schrubber und Eimer kamen wir durch alle Türen. Wir drei waren total happy. Wir machten uns fast in die Hose aus Vorfreude auf den Druck. An der U-Bahn trennten wir uns. Ich fuhr zum Bahnhof Zoo, um Detlef zu treffen.

(...)

Als wir uns ausgequatscht hatten, ging ich mit meiner Janie zur Metro, einem sauteuren Laden im Bahnhof, der auch abends geöffnet ist. Ich kaufte zwei Plastiktüten Hundefutter für Janie und jede Menge Pudding zum Selberanrühren für mich. Dann rief ich bei Narkonon an, ob ich zurückkommen könne. Sie sagten ja. Ich sagte, ich würde eine Freundin mit bringen. Ich verriet nicht, daß Janie die Freundin war.

Ich hatte zwar nicht viel darüber nachgedacht, aber im Grunde war es für mich immer klar gewesen, daß ich zu Narkonon zurückging. Wo hätte ich auch hingesollt? Meine Mutter wäre echt ausgerastet, wenn ich bei ihr vor der Tür gestanden hätte. Außerdem war inzwischen meine Schwester wieder bei meinem Vater ausgezogen und lebte jetzt bei meiner Mutter in meinem Bett und meinem Zimmer. Auf Trebe gehen wollte ich nicht. Für mich war es das Letzte, total von einem Freier abhängig zu sein, der mich über Nacht dabehielt. Ich war noch nie bei einem Freier über Nacht geblieben, denn das hieß auch automatisch Bumsen. Vor allem aber wollte ich ja noch immer echt entziehen. Und ich dachte noch immer; ich brächte das bei Narkonon, weil ich ja gar keine andere Wahl hatte.

Im Haus - wir nannten Narkonon immer nur das Haus - waren sie unfreundlich, sagten aber nichts weiter. Sie sagten auch nichts zu Janie. Es gab schon an die 20 Katzen im Haus, und nun kam noch ein Hund dazu.

Ich holte alte Decken vom Boden und machte Janie neben meinem Bett ein Lager. Am nächsten Morgen hatte der Hund das ganze Zimmer vollgeschissen und gepißt. Janie wurde nie stubenrein. Sie hatte einen echten Hau. Aber den hatte ich auch. Ich liebte Janie. Mir machte es nichts aus, alles wieder sauber zu machen.

Ich kriegte gleich eine Extra-Session. Die machte mir auch nichts aus. Ich tat alles ganz mechanisch. Mich nervte nur, daß ich Stunden nicht bei meinem Hund sein konnte. Um den kümmerten sich inzwischen andere, und das machte mich ganz krank, weil Janie mein Hund sein sollte. Jeder spielte mit ihr herum, und sie spielte mit jedem, denn sie war irgendwo eine kleine Nutte. Jeder fütterte sie, und sie wurde immer fetter. Aber nur ich redete mit ihr, wenn wir allein waren. Ich hatte jetzt wenigstens jemanden, mit dem ich reden konnte.

Ich haute noch zweimal ab. Das letzte Mal war ich vier Tage unterwegs. Also zum ersten Mal auf Trebe. Ich konnte bei Stella wohnen, weil ihre Mutter gerade einen Alkoholentzug machte und in der Nervenklinik war. Die alte Scheiße fing wieder an. Freier, Druck, Freier, Druck. Dann erfuhr ich, daß Detlef mit Bernd nach Paris gegangen war. Da flippte ich aus.

Daß der Typ, mit dem ich so gut wie verheiratet war, aus Berlin abhaute, ohne mir auch nur Bescheid zu sagen, das war das Letzte. Wir hatten in unseren Träumen immer zusammen nach Paris gewollt. Ein kleines Zimmer am Montmartre oder so wollten wir uns mieten und entziehen, weil wir noch nie etwas von einer Scene in Paris gehört hatten. Wir glaubten, in Paris gäbe es keine Scene. Nur eine Menge abgefahrener Künstler, die Kaffee und mal einen Wein tranken.

Nun war Detlef also mit Bernd nach Paris. Ich hatte keinen Freund mehr. Ich war ganz allein auf der Welt, denn mit Babsi und Stella fing auch wieder gleich der alte Streit um irgendwelche Kacke an. Ich hatte nur noch Janie.

Ich rief bei Narkonon an, und da sagten sie mir, daß meine Mutter schon meine Sachen abgeholt habe. Meine Mutter hatte mich also auch aufgegeben. Das machte mich irgendwie wütend. Jetzt wollte ich es allen zeigen. Ich wollte zeigen, daß ich es ganz allein schaffte.

Ich fuhr zu Narkonon, und die nahmen mich auch wieder auf. Ich machte wie besessen die Therapie mit. Ich tat, was man mir sagte. Ich wurde eine richtige Musterschülerin und durfte wieder an diesen Lügendetektor, und der Zeiger schlug nie aus, wenn ich sagte, daß mir eine Session unheimlich viel gebracht habe. Ich dachte, jetzt packst du es. Jetzt gerade. Ich rief meine Mutter nicht an, die meine Sachen abgeholt hatte. Ich lieh mir Zeug. Ich zog Jungs-Unterhosen an. Aber das machte mir überhaupt nichts aus. Ich wollte meine Mutter nicht bitten, mir meine Sachen zurückzubringen.

Eines Tages rief mein Vater an: "Tag, Christiane. Sag mal, wo bist du denn gelandet? Ich habe das gerade erst zufällig erfahren."

Ich sagte: "Finde ich ja riesig, daß du dich auch mal um mich kümmerst."

Er: "Sag mal, willst du denn bei diesem komischen Verein bleiben?"

Ich: "Klar, auf jeden Fall."

Mein Vater holte erst mal eine ganze Weile Luft, dann fragte er, ob ich nicht mit ihm und einem Freund zum Essen gehen wolle. Ich sagte: "Ja, mach ich."

Eine halbe Stunde später mußte ich runter ins Büro, und da war mein lieber Vater, den ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Er kam erst mal rauf in das Zimmer, in dem ich mit vier anderen lag. Er sagte: »Wie sieht es denn hier aus?« Er war ja schon immer ein Ordnungsfanatiker. Und es sah wirklich toll aus in unserem Zimmer wie überall im Haus. Mistig und dreckig, und überall lagen Klamotten rum.

Wir wollten dann losgehen zum Essen, da sagte einer der Bosse zu meinem Vater: "Sie müssen aber eine Erklärung unterschreiben, daß Sie Christiane zurückbringen."

Mein Vater rastete aus. Er schrie, daß er der Vater sei und ganz allein bestimmen könne, wo seine Tochter bliebe. Er nähme mich jetzt mit, und seine Tochter käme auch nicht wieder zurück.

Ich lief rückwärts zum Therapieraum hin und schrie: "Ich will hierbleiben, Papa. Ich will nicht sterben, Papa. Bitte laß mich hier, Papa."

Die Narkonon-Leute, die durch das Geschrei alle zusammen gekommen waren, unterstützten mich. Mein Vater lief raus und brüllte: "Ich hole jetzt die Polizei."

Ich wußte, daß er das tat. Ich rannte los bis auf den Boden und kletterte aufs Dach. Da war so eine Plattform für den Schornsteinfeger. Auf der hockte ich und fror.

Es kamen dann tatsächlich zwei Peterwagen. Die Bullen durchsuchten mit meinem Vater das Haus von oben bis unten. Die Narkonon-Bosse riefen inzwischen auch nach mir, weil sie Angst gekriegt hatten. Aber auf dem Dach fand mich keiner. Die Bullen und mein Vater zogen wieder ab.

Am nächsten Morgen rief ich meine Mutter bei der Arbeit an. Ich weinte sofort und fragte: "Was ist bloß los?"

Meine Mutter hatte eine ganz kalte Stimme und sagte: "Was mit dir passiert, ist mir vollständig egal."

Ich sagte: "Ich will nicht, daß Papa mich hier rausholt. Du hast doch das Sorgerecht. Du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen. Ich bleibe jetzt hier, ich hau nie mehr ab. Ich schwör dir das. Bitte, tu was, daß Papa mich nicht hier rausholt. Ich muß hierbleiben, Mutti, wirklich. Ich sterb sonst, Mutti, glaub mir."

Meine Mutter war richtig ungeduldig und sagte: "Nein, das kommt überhaupt nicht in die Tüte." Dann legte sie auf.

Ich war erst mal unheimlich fertig. Dann kam meine Wut wieder. Ich sagte mir: "Die können dich mal am Arsch lecken. Dein ganzes Leben haben sie sich nicht um dich gekümmert. Und jetzt springen sie mit dir um, wie sie gerade Bock haben, diese Idioten, die alles immer nur falsch gemacht haben. Diese Schweine haben dich total verkommen lassen. Kessis Mutter, die hat dafür gesorgt, daß ihre Tochter nicht in die totale Scheiße kommt. Und diese Miststücke von Eltern glauben nun plötzlich zu wissen, was für dich gut ist."

Ich bat um eine Extra-Session und fuhr auf diese Session total ab. Ich wollte bei Narkonon bleiben und dann vielleicht Mitglied der Scientology-Church werden. Jedenfalls sollte mich niemand hier rausholen. Ich wollte mich von meinen Eltern nicht weiter kaputtmachen lassen. Das war es, was ich dachte in meinem totalen Haß.

Drei Tage später kam mein Vater wieder. Ich mußte runter ins Büro. Mein Vater war ganz ruhig. Er sagte, er müsse mit mir zum Sozialamt wegen des Geldes, das meine Mutter für Narkonon bezahlt habe und vom Sozialamt zurückbekäme.

Ich sagte: "Nein, ich geh nicht mit. Ich kenn dich doch, Papa. Wenn ich mitgehe, sehe ich dieses Haus zum letzten Mal. Und ich will nicht sterben."

Mein Vater zeigte den Narkonon-Bossen eine Bescheinigung. Da stand drauf, daß er mich hier rausholen durfte. Meine Mutter hatte ihn dazu ermächtigt. Der Narkonon-Chef sagte, da sei nichts zu machen, ich müsse mit meinem Vater gehen. Sie könnten mich gegen den Willen meines Vaters nicht dabehalten.

Der Boss sagte noch, ich solle meine Übungen nicht vergessen. Immer konfrontieren. Konfrontieren war so ein Zauberwort von denen. Man sollte alles konfrontieren. Ich dachte: Ihr seid doch Idioten. Da ist doch nichts zu konfrontieren für mich. Ich muß sterben. Ich halte das doch nicht aus. Nach spätestens zwei Wochen mache ich mir doch wieder einen Druck. Das schaffe ich nicht. Ich packe das allein nie. Das war so einer der wenigen Momente, in denen ich meine Situation ziemlich klar sah. In meiner Verzweiflung redete ich mir allerdings ein, daß Narkonon echt die Rettung für mich gewesen wäre. Ich heulte vor Wut und vor Verzweiflung. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr einkriegen.


CHRISTIANES MUTTER:

(...)

Ich sah nur noch eine Möglichkeit: Christiane muß sofort aus Berlin raus. Für immer. Ob sie will oder nicht. Raus aus diesem Sumpf, wo sie immer wieder verfuhrt wird. Dorthin, wo sie vor Heroin sicher ist.

Meine Mutter in Hessen wollte sie sofort nehmen und meine Schwägerin in Schleswig-Holstein auch. Als ich Christiane meinen Entschluß verkündete, wurde sie auf einmal ganz kleinlaut und verstört. Ich hatte die notwendigen Vorbereitungen bereits eingeleitet. Doch dann schlich Christiane scheinbar reumütig an und war bereit, in eine Therapie zu gehen. Sie hatte sogar einen Therapieplatz gefunden. Bei "Narkonon".

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Denn ich war unsicher, ob sie's ohne Therapie in Westdeutschland schafft und meinen Verwandten nicht durchbrennt.

Ich wußte nichts Genaues über Narkonon, nur, daß es dort Geld kostet. Ich fuhr mit ihr zwei Tage vor ihrem fünfzehnten Geburtstag auf der Stelle im Taxi zu Narkonon. Ein junger Mann führte mit uns ein verbindliches Aufnahmegespräch. Er beglückwünschte uns zu unserem Entschluß und versicherte mir, nun brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen. Die Narkonon-Therapie sei in der Regel ein voller Erfolg. Ich könne ganz beruhigt sein. Ich war erleichtert wie lange nicht mehr. Dann legte er mir die Zahlungsverpflichtung zur Unterschrift vor. 52 Mark am Tag und jeweils Vorschuß für vier Wochen. Das war mehr, als ich netto verdiente. Aber was machte das schon? Außerdem stellte mir der junge Mann die Erstattung der Therapiekosten durch das Bezirksamt in Aussicht.

Ich kratzte am nächsten Tag 500 Mark zusammen und brachte sie zu Narkonon. Dann nahm ich einen Kredit von 1000 Mark auf und zahlte sie auf dem nächsten Elternabend ein. Die Elternabende führte ein angeblich ehemaliger Abhängiger. Dem sah man seine Vergangenheit überhaupt nicht an. Dank Narkonon, so sagte er, sei er ein neuer Mensch geworden. Und das imponierte uns Eltern. Er beteuerte mir auch, was für Fortschritte Christiane macht.

In Wirklichkeit spielten die uns Theater vor und hatten es auf unser Geld abgesehen. Später erfuhr ich aus der Zeitung, daß Narkonon zu einer dubiosen amerikanischen Sekte gehört und aus der Angst der Eltern Kapital schlagen will.

Aber wie bei allem, wurde ich auch hier erst schlau, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Vorerst wähnte ich Christiane bestens aufgehoben. Und da wollte ich sie so lange wie möglich lassen. Also brauchte ich Geld.

Ich lief die Ämter ab. Aber keiner wollte zuständig sein. Keiner schenkte mir reinen Wein ein über Narkonon. Ich fühlte mich entmutigt und verschaukelt. Ich kam mir vor, als ob ich den Leuten ihre Zeit stähle. Irgend jemand sagte mir dann, daß ich als erstes ein amtsärztliches Attest über Christianes Drogenabhängigkeit brauche, um überhaupt einen Antrag auf Kostenerstattung einer Therapie stellten zu können. Ich hielt das für einen Witz. Jeder, der von der Sache etwas verstand, konnte Christiane das Elend inzwischen ansehen. Aber das war nun mal der Amtsweg. Bloß - als ich nach zwei Wochen endlich einen Termin beim Amtsarzt hatte, war Christiane bei Narkonon bereits wieder ausgerissen. Schon das dritte Mal.

(...)

Als sich Christiane nach einer Woche bei Narkonon zurückmeldete, konnte ich mich nicht mal mehr richtig freuen. Als ob etwas in mir gestorben wäre. Ich war der Meinung, alles nur Menschenmögliche in Gang gebracht zu haben. Doch nichts hatte geholfen. Im Gegenteil.

Der ganze Schlamassel war immer größer geworden. Auch durch Narkonon war an Christiane mehr verdorben als verbessert worden. Sie hatte sich dort abrupt verändert. Sie wirkte ordinär, gar nicht mehr mädchenhaft, eher abstoßend.

Ich war bereits bei meinen ersten Besuchen in der Narkonon-Villa stutzig geworden. Christiane war mir plötzlich fremd. Irgend etwas war kaputt. Bis dahin hatte sie ja trotz allem noch eine innere Bindung zu mir. Die war futsch. Ausgelöscht wie nach einer Gehirnwäsche.

In dieser Situation bat ich meinen geschiedenen Mann, er solle Christiane nach Westdeutschland bringen. Doch er wollte sie lieber zu sich zu nehmen. Er würde schon mit ihr fertig werden. Und wenn sie nicht spurt, auch mit 'ner Tracht Prügel.

Ich wehrte mich nicht dagegen. Ich war mit meinem Latein am Ende. Ich hatte schon so viel falsch gemacht, daß ich auf einmal Angst hatte, mit Westdeutschland die Fehlerkette fortzusetzen.